Mabon – das vergessene Erntefest und seine Rituale
Die Tage werden kürzer, die Nächte länger, und um den 21./22. September erreicht das Jahr einen besonderen Wendepunkt:
Die Herbst-Tagundnachtgleiche. Für einen Moment halten Licht und Dunkel exakt die Waage – ein kosmischer Atemzug, in dem alles im Gleichgewicht ruht. Doch schon im nächsten Augenblick kippt die Waage, und die Dunkelheit gewinnt langsam die Oberhand.In vielen alten Kulturen war dieser Moment heilig. Die Kelten feierten ihn als Mabon, die German:innen als Herbstfest, bei den Griechen war es die Zeit, in der Persephone zurück in die Unterwelt ging, und auch in Indien und Tibet finden wir Zeremonien zum Jahreszeitenwechsel. Überall ging es um das Gleiche: den Übergang.
Das Ernte Dank Fest
Mabon ist das Fest der zweiten Ernte – das Korn ist eingebracht, die Früchte reifen, die Speisekammern füllen sich. Es ist die Zeit, innezuhalten und zu sagen: Danke. Danke an die Erde, die uns nährt. Danke an die Hände, die geackert, geerntet, getragen haben. Danke an das Leben, das uns immer wieder gibt, auch wenn wir manchmal vergessen, es wahrzunehmen.
Und hier beginnt die eigentliche Magie von Mabon: die Praxis der Dankbarkeit..
Dankbarkeit als spirituelle Praxis
Was passiert, wenn wir nicht dankbar sind? Wir jagen weiter, immer höher, schneller, weiter. Wir verlieren das Gefühl für das, was schon da ist, und leben in einem dauernden Mangel.
Dankbarkeit dreht dieses Muster um. Sie beruhigt das Nervensystem, bringt uns in den Moment, löst Stressreaktionen. Neurowissenschaftlich gesehen stärkt Dankbarkeit die Resilienz, erhöht den Dopaminspiegel und schenkt uns das Gefühl von innerer Fülle. Spirituell gesehen ist Dankbarkeit das Tor zum Vertrauen – ein sanftes Erinnern daran, dass wir getragen sind.
Vielleicht ist genau das die tiefste Einladung von Mabon: innehalten, sehen, was ist, und Danke sagen – bevor wir in die dunkle Jahreszeit hinübergehen.
Bräuche und Rituale zu Mabon
Viele alte Bräuche lassen sich wunderbar auch heute noch leben:
Dankfeste & Opfergaben:
Germanische und keltische Stämme brachten Opfergaben an Flussgöttinnen, Mutter Erde oder den Gottheiten des Ackerbaus dar – Getreide, Früchte, Wein oder das „erste und letzte Korn“.
Erntekränze & Erntedank:
Das Binden von Kränzen und Sträußen aus den letzten Halmen des Feldes war weit verbreitet. Sie wurden oft bis zum Frühjahr aufbewahrt, um Glück und Fruchtbarkeit zu sichern.
Gemeinschaftsmahle:
Nach der Arbeit auf den Feldern wurde zusammen gegessen und getrunken – ein Brauch, der bis heute im Erntedankfest lebt.
Balance-Rituale:
Feuer und Wasser, Sonne und Mond, Tag und Nacht wurden symbolisch geehrt. Es ging darum, Harmonie zu feiern – und zugleich das Unausweichliche zu akzeptieren: die Dunkelheit kehrt zurück.
Mythen & Überlieferungen im September
Germanisch/nordisch:
In der nordisch-germanischen Überlieferung war der Herbst eng mit der Göttin Sif verbunden. Sif gilt als Göttin der reifen Felder, der Fruchtbarkeit und des geernteten Korns. Ihr goldenes Haar wurde oft als Sinnbild für wogende Getreidefelder gesehen, die im Sommer in der Sonne glänzen und im Herbst geerntet werden. Der Mythos erzählt, dass Loki ihr einst in einem Streich das Haar abschnitt – und die Zwerge daraufhin ein neues, goldenes Haar für sie schmiedeten. Dieses Bild erinnert stark an den Zyklus von Ernte und Neubeginn: das Korn wird abgeschnitten, doch aus ihm wächst neues Leben.
Neben Sif wurde im Herbst auch Freyr geehrt, der Gott des Wachstums, der Fruchtbarkeit und des Friedens. Freyr steht für Überfluss und Fülle, für den Segen der Ernte, aber auch für die Harmonie zwischen Mensch und Natur. Mit dem Ende des Sommers bat man ihn um Schutz für die Vorräte, um reiche Ernten im nächsten Jahr und um Frieden in den langen dunklen Monaten, die nun bevorstanden.
Diese beiden Gottheiten spiegeln die Essenz des Herbstes: das Abschneiden und zugleich das Bewahren, das Ende des äußeren Wachstums und die Hoffnung auf neue Fruchtbarkeit im kommenden Jahr. Wenn die Menschen im Herbst ihre Feste feierten, Opfergaben brachten und Dank sagten, dann standen Sif und Freyr für die tiefe Verbindung zwischen Ernte, Nahrung und dem Vertrauen, dass das Rad des Jahres sich weiterdreht – auch in den dunklen Monaten.
Keltisch:
Wenn wir heute vom Fest Mabon sprechen, dann klingt es, als hätte es diesen Namen schon in den Zeiten der alten Kelten gegeben. Doch tatsächlich ist das ein Irrtum. Die Kelten kannten zwar die Sonnenstände genau – sie errichteten Steinkreise und Hügelgräber, die bis heute so ausgerichtet sind, dass zur Tagundnachtgleiche Sonne und Schatten in perfekter Balance aufeinandertreffen. Aber ein eigenes Fest mit dem Namen „Mabon“ hat es in der Antike nicht gegeben.
Der Name selbst stammt aus der walisischen Mythologie: Mabon ap Modron, „Sohn der Mutter“, eine Gestalt, die mit Gefangenschaft und Wiedergeburt verbunden ist. Erst in den 1970er-Jahren wurde dieser Name von der modernen Wicca-Bewegung auf die Herbst-Tagundnachtgleiche übertragen. Man wollte den acht Stationen des Jahreskreises, wie wir ihn heute kennen, eigene Namen geben – und so wurde aus einem mythischen Helden das Symbol eines Ernte- und Dankbarkeitsfestes.
Die historischen Kelten kannten vor allem ihre vier Hauptfeste: Imbolc, Beltane, Lughnasadh und Samhain. Die Sonnenfeste – also die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen – wurden vermutlich ebenfalls beachtet, aber sie standen eher im Hintergrund. Die Menschen wussten, dass mit der Herbstgleiche die dunkle Hälfte des Jahres begann, sie feierten die letzten Ernten und bedankten sich für das, was die Erde geschenkt hatte. Ob diese Rituale einen festen Namen hatten, ist nicht überliefert.
Und doch trägt die moderne Bezeichnung „Mabon“ heute ihre eigene Wahrheit in sich. Denn die Tagundnachtgleiche ist ein Moment der Balance – Tag und Nacht sind gleich lang, Licht und Dunkelheit halten für einen Atemzug die Waage. Genau das feiern wir, wenn wir von Mabon sprechen: den Übergang in die stille Zeit, das Geschenk der Ernte und die Erinnerung daran, dass das Leben aus Rhythmen besteht. Vielleicht haben die Kelten dieses Fest nie so genannt – aber die Qualität dieser Zeit ist zeitlos, und sie berührt uns noch heute.
Römisch:
Das Fest der Pomona, Göttin der Früchte und Bäume, lag im Herbst und betonte die reiche Ernte. Unter den vielen Gestalten, die mit der Erntezeit verbunden sind, findet sich eine beinahe vergessene römische Göttin: Pomona, die Hüterin der Obstbäume und reifen Früchte. Ihr Reich war nicht das Getreidefeld oder die wilde Jagd, sondern der Obstgarten – Äpfel, Birnen, Trauben und Nüsse waren ihr heilig. Während andere Gottheiten für Überfluss und Fülle standen, verkörperte Pomona etwas Feineres, Zarteres: die Kunst des Pflegens und Bewahrens. Sie wurde meist mit einem kleinen Baummesser dargestellt, Symbol für den Schnitt, der Leben erhält, und für die Achtsamkeit im Umgang mit den Gaben der Natur.
Die bekannteste Erzählung über sie stammt aus Ovids Metamorphosen: Pomona lebte zurückgezogen, ganz ihren Bäumen verpflichtet, und wies alle Verehrer ab. Der Gott Vertumnus, Herr des Wandels und der Jahreszeiten, verliebte sich in sie und versuchte in vielen Gestalten, ihr Herz zu gewinnen. Erst als er sich in eine alte Frau verwandelte und ihr von der Schönheit der Liebe, vom notwendigen Spiel zwischen Festhalten und Loslassen erzählte, öffnete sich Pomona. Als er schließlich sein wahres Gesicht offenbarte, erwiderte sie seine Liebe.
Dieser Mythos passt wunderbar in die Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche: Wandel und Balance, Zurückhaltung und Hingabe, das Reifen und Bewahren der Früchte. Pomona erinnert uns daran, dass es nicht nur um Ernte im Überfluss geht, sondern auch um das bewusste Danken, das Schützen und das Maßhalten. Der Apfel, ihr heiligstes Symbol, zeigt im Inneren das Pentagramm – Sinnbild für Ganzheit und das Geheimnis des Lebens. Vielleicht ist genau das ihre Botschaft für Mabon: die Schönheit liegt nicht nur im Äußeren, sondern auch im Kern, dort wo wir hinschauen, wenn wir die Dinge wirklich aufschneiden und nach innen sehen.
Griechisch:
Einer der bekanntesten Mythen, der mit der dunkler werdenden Jahreszeit verbunden wird, ist die Geschichte von Demeter und Persephone. Persephone, die Tochter der Erdgöttin Demeter, wird von Hades, dem Gott der Unterwelt, entführt und in sein Reich hinabgeführt. Für Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit und der reifen Felder, bricht damit eine Welt zusammen. In ihrer Trauer zieht sie sich zurück, wendet sich von der Erde ab, und das Leben beginnt zu welken. Die Felder verdorren, die Bäume lassen ihre Blätter fallen, die Blumen schließen sich – die Natur stirbt langsam.
Doch der Mythos kennt auch einen Ausgleich. Zeus greift ein, und es wird beschlossen, dass Persephone einen Teil des Jahres bei ihrer Mutter und einen Teil im Reich des Hades verbringt. Wenn sie im Frühling zurückkehrt, jubelt Demeter, und alles erblüht. Im Herbst jedoch muss Persephone wieder hinabsteigen, und die Erde zieht sich in die Dunkelheit zurück.
Gerade zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche wird dieser Mythos lebendig: er spiegelt das große kosmische Drama wider, das wir jedes Jahr beobachten. Das Licht zieht sich zurück, das Dunkel gewinnt die Oberhand, und wir werden erinnert, dass Wachstum nicht ewig nach außen streben kann. Es braucht auch die Phase des Rückzugs, der Stille, des Sterbens, damit im nächsten Frühling neues Leben entstehen kann.
Für uns heute ist diese Geschichte mehr als eine alte Erzählung. Sie lädt uns ein, mitzugehen in diesen Rhythmus: anzuerkennen, dass Zyklen aus Werden und Vergehen bestehen. Dass wir nicht immer im Sommer leben können – hell, aktiv, voller Fülle. Sondern dass es Zeiten braucht, in denen wir loslassen, innehalten und uns nach innen wenden. So wie Demeter und Persephone uns jedes Jahr lehren: aus der Dunkelheit wächst neues Leben.
Bedeutung von Mabon in der heutigen Zeit
Mabon ist ein Fest der Dankbarkeit. Wir dürfen zurückschauen auf das, was das Jahr uns gebracht hat – im Außen wie im Innen. Vielleicht sind es Erfolge, Begegnungen, Projekte, die Früchte getragen haben. Vielleicht auch innere Prozesse, Erkenntnisse oder ein Stück gewachsenes Vertrauen. Dankbarkeit bedeutet, bewusst wahrzunehmen, was uns trägt, auch wenn es im Alltag selbstverständlich wirkt.
Doch Mabon ist nicht nur Rückblick, sondern auch Vorbereitung. Die dunkle Hälfte des Jahres beginnt, und wir können uns fragen: Was möchte ich mitnehmen in den Winter? Was darf gehen, was mich nur noch belastet? So wie die Natur ihre Kräfte zurückzieht und nur das Wesentliche bewahrt, sind auch wir eingeladen, Ballast abzuwerfen und Raum für Innenschau zu schaffen.
Mabon zu feiern muss nicht kompliziert sein. Es beginnt mit einer einfachen Geste – vielleicht einem Spaziergang durch den herbstlichen Wald, bei dem wir die Fülle der Natur bewusst betrachten. Wir können einen kleinen Altar mit Früchten, Nüssen oder einem Apfel gestalten, Kerzen entzünden und in Stille „Danke“ sagen. Wer mag, kann ein Dankbarkeitsritual daraus machen: aufschreiben, wofür man in diesem Jahr dankbar ist, und die Worte im Licht einer Kerze laut sprechen.
Auch das Teilen gehört zu Mabon. In alten Zeiten kamen die Menschen zusammen, um nach der Ernte zu feiern, zu essen und zu danken. Heute können wir Freund:innen oder Familie einladen, ein gemeinsames Essen gestalten, Geschichten teilen, vielleicht sogar jeder eine Dankbarkeit aussprechen, bevor die Mahlzeit beginnt.
So wird Mabon zu einem Fest, das uns erdet und erinnert: Alles im Leben hat seine Zeit. Der Sommer, das Licht, die Aktivität – und genauso der Herbst, die Dunkelheit, der Rückzug. Wenn wir diese Rhythmen ehren, finden wir Frieden in uns selbst und spüren, dass wir Teil eines viel größeren Kreislaufs sind.